"Warum arbeitest du so viel?" fragte ich meinen Vater als 15-Jähriger.
"Ich möchte, dass ihr es besser habt als ich damals. Das wirst du dann verstehen, wenn du erwachsen bist und selber Kinder hast", bekam ich zu hören.
Seitdem sind 30 Jahre vergangen, und mein Vater, der Gastwirt ist, arbeitet mit 70 immer noch mindestens 16 Stunden täglich - sechs Tage die Woche. Ich weiß nicht, wie er das schafft!
Jetzt bin ich schon lange erwachsen, Kinder habe ich keine. Dafür hat mein Zwillingsbruder Andreas drei. Wir versuchten nachzuahmen, was uns von unseren Eltern vorgelebt wurde, und eröffneten 1997 ein Lokal. Jedoch mussten wir schnell feststellen, dass wir körperlich, geistig und seelisch nicht für das Arbeitspensum geschaffen waren, welches unsere Eltern täglich bewältigen mussten.
Relativ früh war uns klar: Wir sind nicht so belastbar wie die Generation, die nach dem 2. Weltkrieg geboren wurde. Andreas und ich sind außerdem charakterlich völlig anders "gestrickt"...
Ihm und mir ist es heute nach wie vor unbegreiflich, weshalb für unseren Vater die Arbeit an erster Stelle steht (zumindest auf den ersten Blick). Ein richtiges Privatleben gab es für uns als Familie kaum, alles spielte sich im Restaurant ab. Die Arbeit war ständig präsent. Mein Bruder und ich sind sozusagen im Restaurant groß geworden - das war unser "Wohnzimmer". Wir haben sicherlich viel gelernt. In der Gastronomie stehen natürlich die Gäste im Vordergrund. Sie sind wichtig, denn sie sichern indirekt die Existenz…
Ich kenne noch weitere Selbständige, die ungeheuer viel arbeiten. Wenn die Tätigkeit Freude macht und sie damit glücklich sind, dann ist alles in Ordnung. Man merkt es einem Menschen an, ob das der Fall ist.
Mein Vater ist mit Leib und Seele Gastwirt, und das seit Jahrzehnten. Doch seit zwei Jahren habe ich immer öfter das Gefühl, dass er nicht mehr ganz so zufrieden ist wie früher. Vielleicht weil seine Kräfte nachlassen. Er brüstet sich zwar damit, dass alles in Ordnung sei, meine Wahrnehmung meldet aber etwas anderes. Immer noch kocht er mit Leidenschaft - das ist das Gute. Er lebt seine Berufung. Sicherlich ist das ein Grund für seinen langjährigen Erfolg in dieser anstrengenden Berufssparte. Schon vor fünf Jahren hätte mein Vater in Rente gehen können, er tut es aber nicht. Bis jetzt fand er immer einen Grund, warum er nicht aufhören kann.
Das Gewohnte loszulassen ist gar nicht so einfach, wenn man in seinem Beruf
über 40 Jahre lang aufgegangen ist. Mein Vater wirkt manchmal so, als hätte er ein Rad ins Rollen gebracht, welches er nicht stoppen kann, wahrscheinlich nicht stoppen will. Vielleicht hat er Angst vor dem, was danach kommt. Was soll jemand auch machen, der stolz auf das ist, was er sich hart erarbeitet hat?
Ich bin sicher, mein Vater gehört zu den Menschen, die sich hauptsächlich über Arbeit und Leistung definieren. Das Selbstwertgefühl ist darauf aufgebaut.
"Nur wenn du arbeitest, bist du etwas wert!"
Diese Einstellung wird so bestimmt nie direkt geäußert. Aber sie schwingt in vielen Familien im Verborgenen mit. Die Erziehung ist davon geprägt. Du bist dann angesehen, wenn Du fleißig bist, viel schaffst und brav das erledigst, was man von Dir verlangt. Du funktionierst - genau dafür wirst Du geschätzt. Erst recht, wenn Du erfolgreich bist und etwas vorweisen kannst.
In Deutschland herrscht großer Respekt vor Leuten, die unermüdlich arbeiten, die es durch harte Arbeit zu etwas bringen. Wer sich zudem für andere extrem aufopfert, der bekommt ebenfalls Anerkennung. Kennst Du das auch? Die Gefahr dabei ist: Man kann in ein Hamsterrad geraten. Sobald man einen bestimmten Lebensbereich überbetont und damit in ein Extrem gerät, kommt dafür etwas anderes zu kurz.
Beim vielen Arbeiten ist es meist das Familien- oder Privatleben. Zudem bleibt selten Zeit für die eigene Person und ihre Bedürfnisse. Man hofft einfach, dass man gesund bleibt… Das kann Jahre gut gehen, doch früher oder später führt das Ungleichgewicht zwischen Geben und Empfangen zu Energiemangel, zu familiären Schwierigkeiten, Beziehungsproblemen oder auch psychischen Erkrankungen wie z. B. Burnout oder Depressionen. Alles hat seinen Preis! Wer nicht auf sich achtet, bekommt irgendwann die Quittung…
Doch warum lassen wir es so weit kommen?
Ich selbst war in meiner Zeit als Gastwirt mehrfach wie ausgebrannt. Man steuert, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf eine "Katastrophe" zu. Möglicherweise muss das so sein, da man vorher einfach nicht bereit ist, etwas zu ändern. Häufig fehlt auch die Zeit zum Reflektieren! Zwar ahnt man vielleicht:
"Da läuft etwas aus dem Ruder" oder "wenn ich so weitermache, dann breche ich irgendwann zusammen oder werde krank", doch man blendet solche Gedanken eher aus. Das ist meine persönliche Erfahrung. Warum ist das so? Ich kann es mir nur wie folgt erklären:
Viele Arbeitswütige oder "Funktionierende" merken gar nicht, dass in ihnen unbewusste Programme laufen! Programme, die keine Pausen, keinen Rückzug erlauben. Hinter Rastlosigkeit und übertriebener Aktivität können sich Muster verstecken, und nicht immer sind es die eigenen. Sehr oft wurden Verhaltensweisen von den Eltern übernommen.
Um dem auf die Spur zu kommen, finde ich es wichtig, sich folgende Fragen zu stellen:
Wessen Leben lebe ich gerade?
Lebe ich überhaupt mein Leben? Oder lebe ich das Leben und die Vorstellungen eines anderen? (Das kann man übrigens hervorragend mit dem Armlängentest nachprüfen.)
Bist Du schon einmal nach einer anstrengenden beruflichen Phase für mehrere Wochen ausgefallen? Wenn Berufstätige längerfristig erkranken, ist das für mich kein Zufall. Dann stimmt etwas nicht! Nur wer in Harmonie ist, bleibt von Krankheiten und Unfällen verschont.
Viele harren im falschen Beruf aus, weil sie denken: "Ich kann nicht anders, ich kann mir meinen Job nicht aussuchen, ich muss nehmen, was ich kriegen kann, um Geld zu verdienen, das Leben ist kein Wunschkonzert..." oder Ähnliches.
Da sind wir schon bei zwei typischen Problemen des von Sorgen geplagten Menschen, der Überbetonung des Verstandes und dem starken Verlangen nach Sicherheit und Kontrolle.
Der Verstand plappert ungeheuer laut, was wohl das Vernünftigste für uns wäre. Unsere rationalen Anteile sind hauptsächlich von Meinungen der Gesellschaft oder von Erziehungsregeln geprägt. Sie erschaffen einen enormen Druck und sind dafür verantwortlich, dass wir NICHT unserem Herzen folgen und NICHT das tun, was uns Freude macht.
Ängste spielen ebenfalls eine Rolle! Besser gesagt Ur-Ängste, sie sind tief im Menschen verankert. Die Angst, zu wenig abzubekommen, zu verhungern, Fehler zu machen, ausgeschlossen oder wertlos zu sein, nicht (mehr) geliebt zu werden u.v.m.
Das sind ganz schön unangenehme Gefühle, die man am liebsten schnell wieder loswerden möchte. Nicht jeder will sich mit seinem Innenleben konfrontieren. So beginnt man lieber zu verdrängen und sich abzulenken. Da kommt die Arbeit wie gerufen. Leistung hält vielleicht die Ängste in Schach und lässt relativ wenig Zeit zum Nachdenken über persönliche Themen…
Wahrscheinlich habe ich gerade damit meine Frage beantwortet, warum mein Vater so viel arbeitet. Mindestens einer der genannten Gründe wird es wohl sein. Oder meine Wahrnehmung, was seinen aktuellen Gemütszustand betrifft, hat mich nur getäuscht, und die Arbeit macht ihm einfach nur Spaß. Dann wäre ja alles okay...
Aus unserem Umfeld und den Medien erfahren wir immer wieder von Menschen, die durch eine Krankheit oder einen Unfall außer Gefecht gesetzt wurden. Den bisherigen Beruf auszuüben, ist nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich. Das Bedauern ist dann groß. So manche fallen in ein tiefes Loch, weil sie nicht mehr produktiv sind.
Dann braucht es eine große Portion an Forschungseifer und Bereitschaft zu reflektieren!
1. Wofür steht mein Ausfall? Welche Bedeutung hat er?
2. Habe ich mir zu viel zugemutet?
3. Konnte ich mir keine Auszeiten erlauben?
4. Brauche ich Zeit zur Besinnung?
5. Steckt hinter der Zwangspause eine Botschaft?
6. Stimmt etwas nicht mit meiner Art zu arbeiten?
7. Ist mein Beruf noch der richtige?
8. Haben sich im Laufe der Jahre meine Bedürfnisse verändert? Und ich habe es einfach nur nicht gemerkt?
Wenn Betroffene nicht in Selbstmitleid und eine Opferrolle verfallen wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig als ihre Ziele und ihre bisherige Haltung zu überprüfen. Dafür habe ich weitere Fragen zusammengetragen:
9. Worüber definiere ich mich, falls ich einmal nicht mehr arbeite?
10. Welchen Wert hätte ich, sobald ich z. B. durch Krankheit leistungsunfähig werden sollte oder aus Altersgründen infolge von Arbeitsmarktzwängen (vorzeitig) in Rente gehen muss?
11. Bin ich als Mensch dann wertlos?
12. Was soll ich entwickeln?
13. Was fördert mich und meine Zufriedenheit?
14. Wie kann ich mit meinen Talenten der Welt dienen?
15. Was macht mich glücklich?
16. Welche Arbeit bereitet mir Freude?
17. Was ist mein Ding? Wobei geht mir das Herz auf?
18. Wie viel Arbeit vertrage ich?
19. Welches Pensum ist gesund für mich?
20. Wann muss ich mir Zeit für mich nehmen?
21. Wie viel Rückzug benötige ich?
22. Liebe ich, was ich tue?
23. Nähre ich mich, indem ich meine Lebensaufgabe erfülle?
24. Was brauche ich, damit mein Energielevel oben bleibt?
25. Muss ich zu irgendetwas Nein sagen?
Sich bei den genannten Fragen Klarheit zu verschaffen, bringt weiter.
Gleichzeitig denke ich: Der Mensch ist wohl „fürs Arbeiten geboren“, denn er lernt und entwickelt sich durch die Arbeit. Sie kann erfüllend sein, wenn sie optimal zum Charakter passt. Lebst Du mit deiner Betätigung Deine Berufung ist es wundervoll. Kannst Du Dir nichts anderes vorstellen? Fühlst Du Dich überhaupt nicht erschöpft? Dein Beruf kommt Dir nicht wie Arbeit vor? Dann mach weiter und freu Dich. Sie wird Dich weiterhin flexibel und in Bewegung halten, wenn sie keinen körperlichen Raubbau verursacht.
Sobald aber Dein Nervenkostüm überreizt ist, Du unausstehlich wirst, Gesundheitsrisiken und Symptome auftauchen, ist es Zeit für eine Neuausrichtung.
Dann trau Dich alles Bisherige in Frage zu stellen...
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